Der Rhythmus des Seins: die aristotelische Phänomenologie der Möglichkeit und Wirklichkeit

Abstract

Im Gegenzug zur gewöhnlichen Auffassung, die die Bestimmungen der Möglichkeit und Wirklichkeit als Kategorien des Seienden nimmt, wird in diesem Aufsatz ein Versuch gemacht, Möglichkeit und Wirklichkeit als Bestimmungen des Seins in ihrem eigenen Wert zu verstehen. Ausgehend von der Vorlesung Heideggers über Wesen und Wirklichkeit der Kraft in der Metaphysik Q, 1-3, wird zuerst die aristotelische Theorie der Möglichkeit dargestellt. Möglichkeit, dýnamis ist ebenso eine Kraft des Widerstehens als auch die Kraft des Tuns: die Kraft ist ebenso passiv als aktiv. Das Vermögen kann auch dann vorhanden sein, wenn es nicht in der Betätigung einbegriffen ist, und zwar nach der Seinsart des Habens. Die beiden Bestimmungen des Seins sind von Aristoteles unter Berücksichtigung von Phänomenen der Bewegung und des Lebens gewonnen worden; aber sie haben nicht nur physikalische, sondern auch ontologische Bedeutung. Wirklichkeit ist vor allem das ursprüngliche Vorhandensein der Dinge – tň hypárchein – in ihren vollendeten Gestalt, das von Aristoteles mit den epochemachenden Worten enérgeia und entelécheia genannt worden ist. Eine Sache besteht nicht nur dann, wenn sie im Stoff verwirklicht wird, sondern vor allem dann, wenn sie in ihrer Gestalt anwesend ist. Das Seiende als Wirklichkeit ist die wahre “erste Substanz”, die da in der schöpferischen Ruhigkeit des Seins besteht. Das Philosophem von der Priorität der Wirklichkeit vor der Möglichkeit gewährt die Bewegtheit des Seins, ohne daß der Prozeß des Werdens im Nichtsein aufhören würde. Die aristotelische Theorie von Möglichkeit und Wirklichkeit ermöglicht es, das Sein als Leben in allen seinen Äusserungen zu verstehen, vom Leben der Natur bis zum göttlichen Leben des “Geistes”.